Mach die Augen zu und iss!

Heute macht man sich über das Essen sehr viele Gedanken. Früher wurde gegessen, was auf den Tisch kam. Und warum? Mein Oppa sagte immer: »Futtern hält dich am Kacken!«

Das soll mir schon sehr früh klar gewesen sein. Der Legende nach konnte die stark übergewichtige Schwester Annemarie meine Mutter schon wenige Tage nach meiner Geburt im damaligen Haus C des Augusta-Krankenhauses in Bochum beruhigen: »Dat wird mal n guten Esser!« Wobei es hier ja nur ums Trinken ging. Und da hatte man mich einmal davor und einmal danach gewogen und festgestellt, dass ich dreimal mehr zu mir genommen hatte als der seit siebzig Jahren gemessene Durchschnitt auf dieser Gebärstation.

Aber das war ja noch kein richtiges Essen. Auch die Möhrenpampe, die meine Mutter nach eigener Aussage irgendwann in mich hineinzwängte (jedenfalls das, was ich nicht in der ganzen Küche verteilte) zählt irgendwie nicht. Richtig essen lernt man bei uns inne Gegend bei Omma und Oppa. Ob man dazu Messer und Gabel benutzt, ist zweitrangig.

Auch ist es durchaus nicht verpönt, den Ellenbogen auf dem Tisch zu platzieren und die freie Hand locker über die Kante baumeln zu lassen. Ist ja auch sehr bequem.

Wichtig ist, WAS gegessen wird. Schlimm war es, wenn die Rudimente bäuerlicher Ernährungsgewohnheiten sich Bahn brachen und ein großer Topf mit Erbsen, Graupen, Linsen, weißen Bohnen oder, im Extremfall, Stielmus auf dem Herd vor sich hin köchelte. Der Gestank zog durch die ganze Wohnung, das ganze Haus. Es gibt Häuser, die sind abgerissen worden, weil man den Odem zehntausendfach verkochten Blumenkohls nicht aus den Wänden hatte bringen können. Und wenn Uromma dabei war, erzählte sie dann auch noch unaufgefordert vom Steckrübenwinter 1916/17, und bei Steckrüben, da hatte ja schon der Name so einen verhängnisvollen Klang. Die bleiben einem bestimmt im Hals stecken, dachte ich als Kind.

Angeblich war immer das Ekligste das Gesündeste. Wie kann ein Teller Graupensuppe gesund sein? Etwas, das so aussieht wie schon mal gegessen und wieder hervorgewürgt, kann für den Körper nichts anderes sein als Gift! Das einzig Genießbare an so einer Pampe war die Mettwurst, die glücklicherweise noch darin herumschwamm. Aber zog man die heraus, um sie separat zu vertilgen, blieben immer ein paar Graupen, Linsen oder Erbsen daran hängen, und wie das wieder aussah, möchte man hier gar nicht beschreiben. Mein Vater pflegte dann zu sagen: »Mach die Augen zu und iss!« Immerhin schien er sich des Problems bewusst zu sein.

Es war viel Lüge rund ums Essen. Über Möhren zum Beispiel hieß es, sie seien gut für die Augen. Auf Basis von verlässlichen Alltagsbeobachtungen kann ich heute feststellen: Alle, die als Kinder Möhren gemummelt haben wie ein Kaninchen, hatten später mindestens sechs Dioptrien. Und ich, der ich mich stets von allem, was einer Möhre auch nur ähnlich sah, ferngehalten habe, kann noch immer auf zwei Kilometer Entfernung jedes Straßenschild entziffern!

Und von wegen im Spinat sei viel Eisen! Ist ja mittlerweile komplett widerlegt. Im Spinat ist nur Eisen, wenn man eine Schraube reinwirft.

Sieht man mal von diesen schon fast makrobiotischen Entgleisungen ab, hieß Essen bei uns aber immer Fleisch. Als ich mit Mitte zwanzig mal mit meiner damaligen Freundin Omma besuchte und diese im Vorfeld versprach, für uns zu kochen, gab ich zu bedenken, die Dame sei Vegetarierin, esse also kein Fleisch. Darauf Omma: »Na gut, dann mach ich Hühnchen!«

Großer Beliebtheit erfreuten sich bei uns Schweineschnitzel. Bei Omma immer ohne Sauce, bei Muttern nach »Jäger Art«, wobei die Sauce aus der Packung kam und in dem gleichen Topf angerührt wurde, in dem wir sonst Milch erhitzten. Schon die Zubereitung war schön anzusehen. Wie das Fleisch erst im Ei, dann im Mehl, dann in der Panade gewälzt wurde, war schon der erste sinnliche Genuss. Und wie es dann in der Pfanne vor sich hin brutzelte und die Panade langsam braun und knusprig wurde! Muttern benutzte eine der modernen, beschichteten Pfannen, bei Omma kam natürlich immer noch das Modell aus Gusseisen zum Einsatz, mit dem man zur Not auch Einbrecher erschlagen konnte, jedenfalls wenn man das Ding hochbekam und sich beim Ausholen nicht die Schulter auskugelte.

In der gleichen Pfanne stellte Omma eine andere Basis-Speise her, die nur Ommas wirklich hinkriegen: Frikadellen. Frikadellen von jüngeren Frauen sind nur Kopien, gut gemeinte Versuche, Plagiate. Bestimmte Speisen gelingen einfach erst, wenn eine Frau auf die nächsthöhere Daseinsstufe gelangt ist, auf die Omma-Ebene.

Versammelt sich meine Doppelkopfrunde bei mir, sodass ich als Gastgeber für die Verpflegung zuständig bin, wird schon Tage vorher gefragt: Macht deine Omma denn auch wieder Frikadellen? Sollen wir ihr das Gehacktes vorbeibringen? Sollen wir sie bezahlen? Geld spielt keine Rolle! (Sie haben übrigens richtig gelesen. Bei uns heißt es das Gehacktes. Nicht das Gehackte.)

Fragt man Omma (und bei anderen Ommas wird das nicht anders sein), was das Geheimnis ihrer Frikadellen sei, zuckt sie nur die Schultern. »Ich mach die einfach so wie immer!« Vielleicht hat es mit der Beschaffenheit der Haut an ihren Händen zu tun, mit denen sie erst das Gehacktes in einer Schüssel walkt und knetet und mit Ei und Brötchen vermengt, um es dann zu perfekt geformten Fladen zu formen. Vielleicht haucht sie kurz vor dem Einlegen in die Pfanne noch mal kurz darauf, haucht den Frikadellen so Leben ein. Vielleicht, und das scheint mir am wahrscheinlichsten zu sein, ist es einfach Zauberei. Frikadellen schmecken in jeder Familie anders, aber nie so gut von Muttern wie von Omma.

Also verlegte sich meine Mutter auf Speisen, bei denen sie nicht mit meiner Omma konkurrierte. Sie hatte zum Beispiel eine merkwürdige Vorliebe für Innereien, dabei war sie gar keine blutrünstige Frau, las im Gegenteil bevorzugt Liebesromane. In der Rückschau übertreibt man ja gern, deshalb kommt es mir heute so vor, als habe es in meiner Kindheit einmal die Woche Nierchen gegeben. Der Geruch zog dann durchs ganze Haus und kollidierte mit dem Kohlgeruch aus der Nachbarwohnung. In den Siebzigern waren nicht mehr die Emissionen der Schwerindustrie das Hauptproblem für das Klima, sondern die kulinarischen Vorlieben ganz normaler Hausfrauen. Schon die Konsistenz der Nierchen war abscheulich. Man hatte den Eindruck, man biss auf Gummi. Und als mir dann klar wurde, was durch so eine Niere alles durchfließt, war das Thema für mich endgültig durch. Ich drohte mit Hungerstreik, aber meine Mutter sagte nur: »Das würde dir tatsächlich mal guttun!«

Auch Leber stand auf unserem Speiseplan ganz oben, obwohl die immer ein bisschen nach alter Aktentasche schmeckte. Mein Vater liebte die geschmorten Zwiebelringe, unter denen die Leber fast verschwand, und ich hielt mich vor allem an das Kartoffelpüree.

Bei allem, was es zum Kaffee gab, war Omma dann wieder ganz vorne. Einer der dicksten Sargnägel meiner Ernährung bestand aus Ommas Buttercremetorte. Wenn in einem Wort schon »Butter« UND »Creme« drin vorkommen! Aber, verdorrich noch mal, das Ding war wirklich lecker! Unter drei Stücken ging da gar nichts. Und das vierte heimlich unterm Tisch, wie der Köter der Nachbarn.

Oder Waffeln! Sonntachnammittach. Und dazu ein Familienfilm im Fernsehen: »Don Camillo und Peppone« oder, mein Favorit: »Der rote Korsar«, mit Burt Lancaster in gestreiften Strumpfhosen. Fressen und Fernsehen - da habe ich es gelernt.

Heutzutage zwinge ich Omma, um die Ernährung meiner eigenen Kinder nicht aus dem Ruder laufen zu lassen, nur noch Zitronenkuchen oder diese Quarktorte mit Mandarinen zu backen, wobei das »oder« sich für sie immer anhört wie ein »und«. Mit Ommas ist es ja so: Sagt man ihnen, sie möchten doch bitte zum Geburtstag der Enkel oder, in unserem Fall, Urenkel einen Kuchen backen, wirklich nur einen, weil man ja unter sich sei und schon der eine nicht aufgegessen würde, dann backen sie auf jeden Fall zwei, weil für diese Generationen mehr einfach mehr ist. Außerdem weiß man nie, ob noch überraschend jemand klingelt.

Sagt man, okay, es kommen ein paar Leute mehr, mach doch vielleicht einen zweiten, schleppen sie mindestens drei an. Und noch ein bisschen Gebäck. Will man wirklich nur einen Kuchen, sagt man im Vorfeld kategorisch: Omma, wir wollen keinen Kuchen, wir haben die Kinder und uns selbst komplett auf Möhren umgestellt, schon wegen der Augen, wirklich, bitte, wir essen nie wieder Kuchen. Und wenn sie den einen dann anschleppt, wird es heißen: »Is nur sonn kleiner!« Auch wenn er so groß ist wie sonst auch.

Die Kriegsgeneration tendiert ja überhaupt zu Vorratshaltung. Auch wenn meine Omma mittlerweile einen gut funktionierenden Ein-Personen-Haushalt betreibt, kauft sie Wurst, Fleisch, Käse und Brot immer noch in Kompanie-Stärke. Man weiß ja nie, wer mal überraschend zum Essen vorbeikommt. Wenn ich den Kühlschrank meiner Omma öffne, denke ich immer, ich schaue in ein von einer nur noch schwach flackernden Funzel beleuchtetes Anderthalb-Kubikmeter-Schlaraffenland.

Als Vater versucht man dann, alles besser zu machen. Gesunde, ausgewogene Ernährung ist Trumpf, zu jedem Essen was Grünes. Natürlich, die Wurst im Stadion muss erlaubt sein. Doch als meine Frau kürzlich hoffte, die Kinder würden ob ihres - zugegeben exquisit zubereiteten - Steckrübenpürees in spitze Schreie hellen Entzückens ausbrechen, schoss mir schon durch Kopf, dass wir nicht mehr 1917 haben. Da man dem Partner aber nie vor den eigenen Kindern in den Rücken fallen sollte, legte ich meinem älteren Sohn nur eine Hand auf den Unterarm und sagte: »Mach die Augen zu und iss!«

 

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